Thomas John Barnardo
– der Mann mit der Laterne

Der 4. Juli 1845 ist kein Tag wie jeder andere im Haus von John Michaelis und Mary Barnardo in Dublin. Das neunte Kind wird geboren, der kleine Thomas John. Von Anfang an ist Tom ein schwächliches Kind, er bleibt die Sorge der Eltern. Als John mit zwei Jahren von einer schweren Krankheit heimgesucht wird, verzehrt das Fieber vollständig seine Kräfte. Der herbeigerufene Arzt stellt den Tod des Jungen fest. Als die kleine Leiche in den Sarg gelegt wird, legt der Mann vom Bestattungsinstitut voll Mitempfinden seine Hand auf die Brust des Kleinen. Was ist das? Das Herz schlägt noch. Die Eltern empfangen John zum zweitenmal. Der Kleine wird wieder gesund – die Gebete der Mutter sind erhört.

Tom wächst heran, wird stärker und ist ein sehr temperamentvoller Junge. Zum großen Kummer seiner gottesfürchtigen Mutter bleibt er Glaubensfragen gegenüber verschlossen. Ab seinem zehnten Lebensjahr besucht er die Schule. Sein Lesehunger kennt keine Grenzen. Er verschlingt als vierzehnjähriger Rousseau, Voltaire und Paines.

Mit 15 Jahren kommt Tom in die Lehre zu einem Kaufmann. In dieser Zeit bricht in Irland eine Erweckung aus. Viele Menschen strömen zusammen, um das Evangelium zu hören. Toms Brüder überreden ihn, einmal mitzugehen. Die Verkündigung macht einen tiefen Eindruck auf ihn. In der Folgezeit beginnt er an der Richtigkeit dessen zu zweifeln, was er bisher in sich aufgenommen hat. Schließlich ist es so weit: Tom bekehrt sich am 26. Mai 1862, fast 17 Jahre alt. Er bricht konsequent mit der Vergangenheit und möchte sein Leben völlig seinem Herrn unterordnen, der ihn errettet hat. Sein Wunsch ist es, ein brauchbares Werkzeug in der Hand seines Meisters zu werden. Bald beginnt er, jeden anzusprechen, sogar den Polizisten auf der Straße. Er besucht Kranke, sagt ihnen vom Heiland, spricht mit Soldaten und verteilt Traktate in Dublin.

Eines Tages hört er von den Waisenhäusern Georg Müllers, schreibt ihm einen Brief und fragt ihn, wie man Menschen vom Rand des Abgrunds zurückhalten kann. Müller schreibt ihm, er solle erst einmal gründlich seine Bibel studieren. Die Antwort enttäuscht ihn. Zusammen mit seinen Brüdern mietet er verschiedene Lokale, wo sie gemeinsam Evangelisationen durchführen. Er wird Mitglied im CVJM. Dann tritt er einer Mission bei, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, von Haus zu Haus zu gehen und den Menschen aus der Bibel vorzulesen, das Evangelium weiterzusagen und Flugblätter zu verteilen. Schließlich wird er Lehrer in einer Armenschule.

Als Hudson Taylor 1866 von einem dreizehnjährigen Aufenthalt in China nach England zurückkehrt, hört Tom ihn eines abends über seine Erfahrungen berichten. Als Taylor an einem anderen Abend zu Schülern eines Seminars spricht und auch Tom zuhört, flüstert er seinem Nachbarn zu: "Wenn dieser kleine Mann [Barnardo selbst war ebenfalls klein] derart Großes zu vollbringen vermag, dann besteht auch für mich Hoffnung." An diesem Abend entschließen sich vier junge Männer, als Missionare nach China zu gehen, unter ihnen John Barnardo.

Als die jungen Männer in London auf ihre Aufgabe vorbereitet werden sollen, mietet John in London bei einer Witwe zwei einfache Zimmer. Drei reisen nach kurzer Zeit nach China aus. Tom bleibt in London, denn Taylor hatte ihm geraten, sich durch ein Medizinstudium gründlich auf den Missionsdienst vorzubereiten, um dann zu einem späteren Zeitpunkt auszureisen. Vielleicht war das ein Vorwand. Taylor scheint an Toms Berufung für China gezweifelt zu haben. Sollte Toms außergewöhnliches Organisationstalent besser in London als in China zu Entfaltung kommen?

Sein Medizinstudium absolviert er ohne besondere Begeisterung. Während seines Studium bricht in dem Stadtteil Stepney eine Choleraepidemie aus. Bereits in der ersten Woche sterben 14 Menschen, in den folgenden drei Wochen jeweils mehr als 1000 Menschen. Über 6000 Kranke müssen behandelt und gepflegt werden. John ist unermüdlich unter den Helfern und arbeitet Tag und Nacht.

In diesen Tagen sollte er an seine Lebensaufgabe herangeführt werden. Er wird nämlich auf eine "Ragged School" (Zerlumptenschule) aufmerksam. Freiwillige Helfer unterrichten an einigen Abenden in der Woche und an Sonntagen arme Kinder. Zu dieser Zeit gab es noch keine allgemeine Schulpflicht. Die Kinder kommen meist, wenn überhaupt, um für einige Stunden einen warmen Unterschlupf zu finden. John hilft mit und wird nach kurzer Zeit Leiter dieser Zerlumptenschule. Sein Wunsch ist es, diese Kinder vor allem mit dem Evangelium bekanntzumachen. Als das Leitungskomitee der Schule Einspruch dagegen erhebt, gibt Barnardo die Leitung der Schule zurück. Statt dessen gründet er mit seinen Helfern eine neue Schule. Sie mieten einen Schuppen, der früher als Stall für Esel gedient hatte, und zwar in einer Gegend, wo die Kinder noch verwahrloster aufwachsen. Die Eröffnung der Schule erfolgt im Spätherbst 1866; Tom ist nun 21 Jahre alt.

Im November dieses Jahres will eines Tages ein kleiner Junge aus der Schule nicht nach Hause gehen. Auf die Frage, warum er nicht zu seiner Mutter gehen will, sagt er: "Ich habe keine Mutter und keinen Vater, auch keine Angehörigen." Sein Name ist Jim Jarvis, 10 Jahre alt, völlig zerlumpt und barfuß. Er behauptet, nachts in einem Heuwagen zu schlafen. Barnardo fragt ihn, ob er noch mehr Jungen wie ihn in London kenne. Seine Antwort ist: "Gewiß Herr, ganze Rudel, mehr als ich zählen kann."

Tom versprich Jim ein heißes Getränk und eine Schlafgelegenheit, wenn er ihn in der kommenden Nacht zu den anderen Kindern führt, die ebenso wie er unter freiem Himmel schlafen. Jim bekommt in Barnardos Zimmer eine Schlafstelle auf einer Matratze. Um Mitternacht ziehen beide los. Es geht zum Markt, an Buden vorbei, an einer steilen Mauer hoch, und siehe da, unter einem Blechdach schlafen eine ganze Anzahl Jungen, nur mit wenigen Lumpen bekleidet. Es sind die Ärmsten der Armen, von denen die Gesellschaft keinerlei Notiz nimmt. Das ist der Anfang einer Arbeit, die viele Jahrzehnte dauern sollte.

Tom sammelt Kinder über Kinder. Bis zum Tode Toms sollten auf dieses Weise 150 000 Kinder in London eine Heimat, Erziehung und Ausbildung finden. Als Barnardo die Arbeit aus den Händen gibt, werden täglich 7000 Kinder in den Heimen versorgt. Gott schenkte im Lauf der Zeit die Mittel, so daß insgesamt 100 Häuser gekauft, umgebaut und neu gebaut werden konnten.

Im Jahr 1869 entscheidet er sich endgültig, nicht als Missionar nach China zu gehen. Gott hat ihm eine andere Aufgabe anvertraut. Ein Parlamentsabgeordneter, der von dieser Arbeit hört, spendet mit einem Schlag 1000 engl. Pfund, eine für damalige Verhältnisse unglaublich hohe Summe Geld. Wie soll er bei der vielen Arbeit nur sein Medizinstudium abschließen?

Immer wieder zieht er nachts mit seiner Laterne hinaus, um die verwahrlosten Kinder einzusammeln. Wie soll alles finanziert werden? "Er hatte sich vorgenommen, für das Werk des Herrn niemals und unter keinen Umständen um Geld zu betteln, sondern lediglich den Wunsch zu wecken, mithelfen zu dürfen; nach des Meisters Gebot: ,Seid niemand irgend etwas schuldig', keine Schulden zu machen und weder die Namen noch die Adressen der Geber zu veröffentlichen."

Im Jahre 1873 führt Gott Barnardo eine treue Gehilfin zu, Syrie Louise Elmslie, die Tochter eines reichen Industriellen. Im Reichtum aufgewachsen, hatte sie sich dennoch bereits seit vielen Jahren in Richmond ebenfalls um verwahrloste Kinder gekümmert. Sie hat ihm bis zu seinem Tode im Jahre 1905 bei seiner ungeheuren Arbeitslast treu und einfühlsam zur Seite gestanden.

In der Folgezeit kommt in Ilford ein Mädchenheim dazu, das schließlich zu einem ganzen Dorf heranwächst. Die Arbeit dehnt sich immer weiter aus. Es fehlt nicht an Feindschaft und Verleumdungen der Arbeit, die John und Syrie aber letztlich nicht von der großen Aufgabe abhalten können. 1875 veröffentlicht sogar eine Zeitung in einem Artikel ungeheuerliche Anklagen gegen ihn. John verläßt London für einige Zeit , nicht zuletzt um im Frühjahr 1876 seine letzten medizinischen Examen abzuschließen, kehrt aber dann nach London zurück. Einige Zeit danach gründet Barnardo ein eigenes Diakonissenhaus, in dem ständig achtzehn bis fünfundzwanzig junge Frauen gründlich auf ihre Arbeit unter den Armen Ostlondons vorbereitet werden. Im Jahre 1883 kann in Stepney ein Knabenheim erweitert werden, das nun 400 – 450 Jungen Platz bietet. Immer neue Häuser und Heime kommen dazu. 1885 erwirbt Barnardo ein vollständiges Häuserviereck. Jeder Tag bringt neue Überraschungen.

Eines Tages geschieht etwas Außergewöhnliches: "An einem Samstagnachmittag befand sich unter den eingehenden Poststücken eine mit ,Nestlé's Milk' angeschriebene Blechbüchse, die an die Leitung der Barnardo-Heime adressiert war. Als der Träger die Pakete aufeinanderstellte und eben nach der Büchse griff, erregte ein schwaches Geräusch, wie das Miauen einer Katze, seine Aufmerksamkeit. Die Büchse wurde geöffnet, und zum Entsetzen aller kam ein vielleicht vierzehn Tage altes Baby zum Vorschein, sorgfältig in einige Flanellappen und in ein Stück groben Wollstoffs eingewickelt. Neben dem Kind lag eine Trinkflasche, deren Lutscher der Säugling im Mündchen hielt. An das Hemdchen des Kindes angeheftet, fand sich ein mit Bleistift beschriebener Zettel: ,Gott möge mir verzeihen, was ich tue, um mich vor dem sicheren Tod zu retten. Ich habe keine andere Wahl, als Ihnen meinen Liebling zu schicken oder mir das Leben zu nehmen. Hoffentlich kann ich es Ihnen eines Tages vergelten. Sie werden meinem Liebling gut sein. Sein Name ist Frank. Gott segne Sie, lieber Herr. Eine unglückliche Mutter.'"

1887 reist Barnardo zum erstenmal nach Kanada, wo auf einem 3 600 Hektar großen Grundstück eine Musterfarm errichtet werden soll. Dort sollen mehr als hundert Burschen aufgenommen werden, um später in Kanada Arbeit und eine Heimat zu finden. Im gleichen Jahre werden in England 330 Kinder zwischen fünf und neun Jahren in 120 Familien auf dem Land untergebracht. Unzählige Kinder finden auf diese Weise eine neue Heimat. Im Lauf der folgenden Jahre reist Tom noch mehrere Male nach Kanada, um dort Kontakte mit Farmern zu knüpfen, die bereit wären, diese jungen Menschen nach ihrer Ausbildung auf ihren Farmen zu beschäftigen. Viele junge Menschen haben sich später bewährt und sind tüchtige Christen geworden, die ihren Mann im Leben standen.

"Dieser ganze Betrieb, der mit jedem Tag wuchs, verschlang eine Unsumme von Geld. Bis 1888, nach zweiundzwanzig Jahren also, waren es 12 653 Kinder, die Barnardo aus dem Elend der Niemandslosigkeit errettet hatte ... Und nach wie vor waren es einzig und allein die ihm zufließenden freiwilligen Spenden, die sich zum guten Teil aus kleinen und kleinsten Beträgen zusammensetzten."

Barnardo hat unglaublich viel Arbeit. Neben all den Bemühungen um die Kinder gibt es Tage, wo er bis zu 150 Briefe allein an einem Tag beantworten muß. 120 Sekretäre, Schreiber, Schreiberinnen und Gehilfen helfen ihm bei der Bewältigung der Korrespondenz und der Bestätigung der Spenden. Allein 1895 gingen in Stepney 158 030 Briefe und Pakete ein, weggeschickt wurden sogar 197 657 Poststücke. Viele nennen Barnardo den fleißigsten Mann in London.

Doch die ungeheure Arbeitsleistung zehrt an seinen Kräften. Mit sechzig Jahren (1905) ist er so herzleidend, daß er oft sehr heftige Schmerzen hat. Es hält sehr schwer, ihn zu einer Kur im Süden Englands zu überreden. Doch schließlich geht er und erholt sich ein wenig. Kaum merkt er, daß seine Kräfte zurückkehren, da reist er auch schon wieder nach London zurück und stürzt sich in die Arbeit. Die Herzerkrankung zehrt jedoch sehr schnell seine Kräfte wieder auf, und so neigt sich dieses unermüdliche Schaffen bald seinem Ende entgegen. Völlig erschöpft im schonungslosen Dienst für seinen Herrn geht er 1905 mit sechzig Jahren heim zu Jesu, seinem Herrn. Am 4. Oktober wird sein Sarg auf seinen Wunsch hin auf dem grünen Rasenplatz in der Nähe der Kirche des Mädchendorfs in die Erde gelegt.

"Was für ein großer Baum ist aus dem Senfkorn geworden! 7 000 Kinder werden Tag für Tag in den Barnardo-Heimen gespeist, gekleidet und zu brauchbaren Menschen erzogen, und es sind mehr als 150 000 Knaben und Mädchen, die bis heute durch Barnardos Liebe und Glaubensmut gerettet worden sind. So wuchs die Wirkung des Geschaffenen, und sie wächst weiter wie alles, was aus der Liebe lebt, ohne Pause und ohne Ende."


Werner Mücher

Zur weiteren Lektüre empfehlen wir die ausführliche Biographie von Emil Ernst Ronner, Der Mann mit der Laterne – Dr. Barnardo – Der Vater der Niemandskinder, Hänssler, aus der wir hier teilweise wörtlich zitiert haben.

Aus der Zeitschrift " Folge mir nach ", Heft 2, 1999, S. 28 - 32.

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