KAPITEL 13

In diesem Kapitel spricht nun der Apostel zu­nächst von der Wertlosigkeit der glänzendsten Ga­ben ohne die Liebe. Er zeigt den wahren Charakter dieser Liebe und ihre ewige Dauer im Gegensatz zu den übrigen Gaben, die alle ihr Ende erreichen werden. Die Liebe ist die Wesenheit des unverän­derlichen Gottes; sie ist die unversiegbare Quelle aller Seiner Handlungen gegen uns; und deshalb ist auch nur das allein wertvoll und köstlich vor Ihm, was aus derselben Quelle entspringt. Alles an­dere ist nichtig, so sehr es auch die Bewunderung der Menschen auf sich ziehen mag. Würde ich auch alle Sprachen der Menschen und sogar der Engel reden, würde ich Prophezeiungen haben und alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse wissen, würde ich allen Glauben haben, also dass ich Berge versetzte, würde ich alle meine Habe austeilen und selbst meinen Leib zum Verbrennen hingeben, ja würde ich das alles können und tun, und dieserhalb von allen Menschen bewundert, als hoch bevorzugt betrachtet und glücklich und selig gepriesen wer­den, so wäre ich dennoch nichts und würde auch nichts damit gewinnen, wenn die Liebe fehlte, wenn sie nicht die Quelle und der alleinige Beweggrund aller meiner Handlungen wäre (Verse 1—3). Ernste und beherzigenswerte Wahrheit! Eine Wahrheit, die alle Selbstsucht und allen eitlen Hochmut des Menschen zu Boden schlägt. Ach, wie manches Dich­ten und Trachten, im Lichte dieser Wahrheit, dem alleinigen Maßstabe Gottes, betrachtet, würde auf­hören, und wie manche Bewunderung dahinsinken! Der Mensch sucht so gern die Größe des Menschen; Gott aber sucht die Liebe, die Gleichförmigkeit Sei­ner Natur. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in un­sere Herzen durch den Heiligen Geist, Der die Kraft derselben ist. In ihr besitzen wir die göttliche Natur und sind fähig gemacht, Gottes Nachahmer zu sein. In völligem Gegensatz zu der Eigenliebe des Menschen sucht sie den Beweggrund ihrer Aus­übung nicht in dem Gegenstande, womit sie be­schäftigt ist, sondern findet ihn in sich selbst; sie liebt, weil sie Liebe ist. Sie fragt nicht zuerst nach der Würdigkeit des Gegenstandes, noch sucht sie die Anerkennung und Gegenliebe desselben. Keine Schwachheit bei andern vermag sie zu schwächen, und kein Hass oder irgendwelche Kränkung ihre Quelle zu verstopfen. Sie ist frei von aller Selbst­sucht des Menschen, frei von aller Empfindlichkeit des Fleisches. Die vollkommene Offenbarung dieser Liebe finden wir in der Person Christi, als Er auf Erden wandelte und auf dem Kreuz Sein Leben für uns dahingab. Verfolgen wir Seinen Pfad hie­nieden Schritt für Schritt, so haben wir die voll­kommene Verwirklichung dessen, was uns in die­sem Kapitel von der Liebe gesagt wird. Und nur in Gemeinschaft mit Christus, Der sich selbst für uns, als Darbringung und Opfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch hingegeben hat (Eph. 5, 2) , sind wir auch fähig, in Liebe zu wandeln und Gott zu verherrlichen.

Lasst uns jetzt mit ernster Aufmerksamkeit jenes schöne Verzeichnis der verschiedenen Eigenschaf­ten der Liebe betrachten, das der Apostel hier von Vers 4—7 vor unsern Blicken darstellt. «Die Liebe ist langmütig». Sie erträgt lange und ist geduldig gegen die, welche ihr Kummer und Schaden zu be­reiten suchen. Sie ist langsam zum Zorn und sucht vielmehr den Fehlenden mit Nachsicht und Erbar­men zur Umkehr zu bringen. «Sie ist gütig.» Sie ist stets bemüht, allen wohl zu tun und Gutes zu er­weisen und ist weit davon entfernt, Böses mit Bö­sem zu vergelten, sondern das Böse mit dem Guten zu überwinden (Römer 12, 17. 21). «Die Liebe neidet nicht», d.h. sie ist nicht missgünstig. Anstatt mit Eifersucht und Neid das Wohlergehen und die Vorzüge anderer zu betrachten, ist sie vielmehr voll Freude darüber. «Die Liebe tut nicht groß.» Sie ist fern von aller Prahlerei und allem Haschen nach fremdem Beifall und sucht sich nie auf Kosten an­derer zu erheben und ihre eigenen Vorzüge ans Licht zu stellen. «Sie blähet sich nicht auf.» Sie ist nicht mit Dünkel und Einbildung, nicht mit einer hohen Meinung von sich selbst erfüllt. «Sie gebär­det sich nicht unanständig», weder durch ungeziemende Worte, noch durch anstößiges Benehmen. Stets auf das Wohl und den Nutzen aller bedacht, liegt Ordnung, Anstand und Zucht ihr am Herzen. «Sie sucht nicht das Ihrige.» Die Selbstsucht des Menschen denkt nur an sich und lebt nur für sich; die Liebe aber ist mit andern und für andere be­schäftigt und stets für das Wohl derselben besorgt. Anstatt auf Anerkennung und Gegenliebe zu war­ten, ist sie sogar fähig, um so reichlicher zu lieben, je weniger Erwiderung sie findet. (Vergl. 2. Korinth. 12, 15.) «Sie lässt sich nicht erbittern.» Sie vergibt Beleidigungen gern und trägt nicht das Geringste im Herzen nach (Verse 4. 5).

Bei den bis jetzt aufgezählten Eigenschaften der Liebe ist Selbstverleugnung der hervorragende Cha­rakter; ihre beständige Triebfeder ist das Wohl­ergehen der andern. Die folgenden Eigenschaften bezeugen mehr ihre Freude am Guten und ihr Ver­halten gegen das Böse. Sie lässt sich nicht durch die so tief gewurzelte Neigung der menschlichen Natur leiten, die so gern das Ungute bei andern voraus­setzt, sondern «sie denkt nichts Böses». Sie lässt nie einem unbegründeten Argwohn Raum, noch fällt sie ein Urteil auf bloße Vermutungen hin oder nach den traurigen Erfahrungen und Enttäuschungen, die sie im Umgang mit andern gemacht hat, sondern setzt immer das Beste voraus. «Sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit» (Vers 6). Weit davon entfernt, selbst das Böse zu tun, hat sie auch keine Freude daran, wenn andere in Ungerechtigkeit wandeln; sondern in Übereinstimmung mit der Wahrheit erfreut sie sich stets der Heiligkeit, Lauterkeit und Rechtschaf­fenheit. Wenn sie auch das Gute nicht sieht, so vermutet sie es; und wenn sie das Böse sieht, so erträgt sie es mit Langmut und Geduld. Solange das Wohl anderer es nicht durchaus erfordert, sucht sie es nicht aufzudecken; ja, ihr innigster Wunsch ist, das Böse für immer begraben zu können. «Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles» (Vers 7). Sie ist ohne Misstrauen, legt alles zum Guten aus, hofft immer das Beste und lässt sich selbst durch die erfahrenen Kränkungen nicht darin irre machen. Auch denkt sie nicht im gering­sten daran, für das ihr zugefügte Unrecht oder die ihr zuteil gewordenen Beleidigungen Rache auszu­üben. O möchte der Heilige Geist diese Liebe im­mer mehr in uns kräftig und wirksam sein lassen, damit ihre herrlichen Eigenschaften immer völliger in unserm ganzen Wandel zur Verherrlichung Got­tes und zum Nutzen der Seinigen hervorstrahlen!

Die Liebe nun ist ewig, weil sie die Natur Gottes ausmacht. «Die Liebe vergeht nimmer. Seien es aber Prophezeiungen, sie werden weggetan werden; seien es Sprachen, sie werden aufhören; sei es Erkenntnis, sie wird weggetan werden» (Vers 8). Die Mitteilung der Gedanken Gottes, sowie auch das Mittel dieser Mitteilung, die Kenntnis, die wir hie­nieden erlangen, dies alles erreicht sein Ende; aber die Liebe bleibt. Wir erkennen auch hienieden die Wahrheit, obwohl sie völlig geoffenbart ist, nur stückweise (Vers 9); wir sind nicht imstande, uns das Ganze derselben auf einmal vorzustellen, son­dern immer nur einzelne Teile; und darum ist un­sere Erkenntnis auch unvollkommen. «Wenn aber das Vollkommene gekommen sein wird, so wird das, was stückweise ist, weggetan werden» (Vers 10); dann wird auch unsere Erkenntnis eine voll­kommene sein. Wie groß ist doch der Unterschied zwischen dem Fassungsvermögen eines Kindes und dem eines Mannes, zwischen der Art und Weise ihrer Anschauung, der Wahl eines Gegenstandes und ihrer Freude darüber; aber noch weit größer wird der Unterschied zwischen einem Christen hie­nieden, umgeben mit Schwachheiten aller Art, und einem Christen in der Herrlichkeit droben sein, wo jede Unvollkommenheit verschwunden sein wird (Vers 11). «Denn wir sehen jetzt durch einen Spie­gel, undeutlich, dann aber von Angesicht zu An­gesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich auch erkannt worden bin» (Vers 12). Jeder Nebel ist dort verschwunden; jeder Schatten hat einer vollkommenen Klar­heit Platz gemacht. Wir werden alle Dinge im Lichte Gottes in ihrer wahren Wirklichkeit verste­hen und erkennen. «Nun aber bleibet Glaube, Hoff­nung, Liebe, diese drei, die größte aber von diesen ist die Liebe» (Vers 13). Hienieden können wir weder ohne Glauben, noch ohne Hoffnung den Pfad unserer Pilgrimschaft vollenden. Sie sind das gesegnete Vorrecht derer, die hienieden keine blei­bende Stätte haben, sondern die zukünftige suchen, die durch eine Wüste wandern, wo nichts das Herz erfreuen und erquicken kann; aber so gesegnet und notwendig auch Glaube und Hoffnung sein mögen, so ist dennoch die Liebe, auch hienieden schon, größer als beide; denn sie ist die Gleichförmigkeit der Wesenheit Gottes, der lebendige Ausdruck dessen, was Er ist. Ihr Besitz und ihre Ausübung offen­baren, dass wir Seiner Natur teilhaftig geworden und mit Seinen Gefühlen und Handlungen in Über­einstimmung sind.