KAPITEL 6

Der erste Teil dieses Kapitels lässt uns voraus­setzen, dass in der korinthischen Versammlung viele Streitigkeiten über zeitliche Dinge vorhanden wa­ren; und sowohl dieser Umstand, als auch noch viel­mehr ihr Verhalten darin, liefert uns einen neuen Beweis ihres schwachen Zustandes. Sie trugen gar kein Bedenken, ihre Rechtsangelegenheiten den weltlichen Richtern zur Entscheidung vorzulegen. Der Apostel drückt seinen ernsten Tadel darüber aus, indem er fragt «Darf jemand unter euch, der eine Sache wider den andern hat, rechten vor den Ungerechten und nicht vor den Heiligen?» (Vers 1). Das Ungeziemende ihrer Handlungsweise, das Rechten vor jenen, die der Apostel nach ihrem all­gemeinen Charakter als «Ungerechte» bezeichnet, erscheint aber im Blick auf die gesegneten Vorrechte der Heiligen in einem noch weit traurigeren Licht. «Wisset ihr nicht», fragt der Apostel, «dass die Hei­ligen die Welt richten werden? Und wenn durch euch die Welt gerichtet wird, seid ihr unwürdig, über die geringsten Dinge zu richten? Wisset ihr nicht, dass wir Engel richten werden, geschweige denn Dinge dieses Lebens?» (Verse 2. 3). Wenn der Herr kommen wird, um die Welt zu richten und über Engel Sein Urteil zu sprechen, dann wird die Versammlung, die hienieden mit Ihm ausgeharrt und Seine Schmach getragen hat, dort mit Ihm vereinigt sein und an Seinem Gericht teilnehmen. «Wenn wir ausharren, so werden wir auch mitherr­schen», sagt der Apostel an einer andern Stelle (2. Tim. 2, 12; vergl. Lukas 22, 28—30; Offenbg. 2, 26. 27). Und weissagend spricht Henoch «Siehe, der Herr ist gekommen inmitten Seiner heiligen Tausende, Gericht auszuführen wider alle» (Judas, 14. 15). Wie beschämend war es nun im Blick auf diese hohe und herrliche Berufung für die Ko­rinther, dass sie nicht einmal fähig waren, über die nichtigen Dinge des täglichen Lebens zu richten, die doch so wenig geistliche Fähigkeit erforderten, dass selbst «die gering Geachteten in der Versammlung», die Schwächsten in derselben, tüchtig genug sein mussten, um darüber zu entscheiden! (Vers 4). Und wie demütigend musste für die sich weise dünken­den Korinther die Frage des Apostels sein: «Ist nicht ein Weiser unter euch, auch, nicht einer, der fähig sei, zwischen Bruder und Bruder zu entschei­den; sondern es rechtet Bruder mit Bruder, und das vor Ungläubigen? Es ist ja nun schon überhaupt ein Fehler an euch, dass ihr Rechtshändel miteinan­der habt» (Verse 5—7). Wenn der Gedanke an die herrliche Berufung der Versammlung ihr Herz erfüllt hätte, so würden sie lieber Schaden gelitten haben, als sich dem Urteil der Welt zu unterwer­fen. Weit besser hätten sie getan, sich von Christus leiten zu lassen und überhaupt keine Ansprüche und Rechte gegeneinander geltend zu machen. «Warum lasset ihr euch nicht viel lieber Unrecht tun? Warum lasset ihr euch nicht lieber übervor­teilen?» Eine solche Gesinnung allein ist dem Geiste des Christus gemäß. Jetzt haben wir zu vergeben, zu leiden, zu dulden und zu verleugnen; denn Chri­stus ist noch verworfen und herrscht noch nicht. Das Teil der Versammlung ist jetzt Leiden und Verwer­fung — dann aber Herrlichkeit und Macht. Sie ist jetzt berufen, zu gehorchen und nicht zu herrschen. Daher ist es auch ganz im Widerspruch zu ihrem Charakter, sich in Rechtssachen zu mischen. Die Versammlung hat ihrem Herrn nachzufolgen, der nicht Seine Rechte geltend machte, sondern alles Seinem Vater übergab. Wie glücklich, wenn die Versammlung hier das Kreuz des Christus tragen und in allen Dingen unterworfen sein will, um ein­mal als das himmlische Jerusalem mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt zu werden; denn «wenn wir ausharren, werden wir auch mit Ihm herrschen.»

Wie sehr aber hatten die Korinther ihre Berufung vergessen! Wie sehr stand ihre Gesinnung und Handlungsweise in dieser Sache im völligen Gegen­satz zum Geiste Christi! Anstatt Unrecht zu leiden, musste von ihnen gesagt werden «aber ihr tut Un­recht und übervorteilt, und das Brüder» (Vers 8). Das war nicht der Geist des Christus; «der, geschol­ten, nicht wieder schalt, leidend, nicht drohte, son­dern sich, Dem übergab, der recht richtet» (1. Petr 2, 23). Und ach, wie wenige gibt es auch unter den Seinigen, die sich im Kampf wider die Ungerechtig­keit in dieser Welt durch den Geist der Sanftmut und Geduld des Christus leiten lassen!

Zugleich erinnert hier der Apostel die Korinther an ihre Verantwortlichkeit, welche durch die gött­liche Unumschränktheit der Gnade nicht aufgehoben wird. «Wisset ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden ?» (Vers 9). Das Urteil Gottes bleibt unveränderlich, und wenn Gläu­bige demgegenüber gleichgültig werden, so lässt Er ihnen ernstlich zurufen «Irret euch nicht!» (Vers 9). Wie frei und überströmend auch Seine Gnade ist, so werden doch die Ungerechten das Reich Got­tes nicht ererben, noch wird die Verantwortlichkeit der Heiligen in bezug auf das praktische Leben aufhören. Wer die Ungerechtigkeit tut, kommt kei­nesfalls in den Himmel, daher hat jeder Christ in heiliger Ehrfurcht vor Gott zu wandeln. Wie schwer­wiegend auch die Sünden der Korinther waren, worin sie einst lebten, und die ihnen der Apostel nochmals in Erinnerung ruft, so darf Paulus ebenso mit großer Freimütigkeit sagen «Aber ihr seid ab­gewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid ge­rechtfertigt in dem Namen unseres Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes» (Vers 11). Sie waren durch die Kraft des Heiligen Geistes und des Namens Jesu in diese Stellung gebracht. Nun lastete die Verpflichtung auf ihnen, sich von allen Tätern der Ungerechtigkeit zu trennen und Gott in Treue und Reinheit zu dienen.

Der Apostel kommt dann in diesem Kapitel noch auf zwei andere Übel zu sprechen, die in der Ver­sammlung zu Korinth gefährlich zu werden droh­ten. Auf der einen Seite war es der Geist der Ge­setzlichkeit oder des Judaismus und auf der andern Seite der Geist der Gesetzlosigkeit oder der Welt. Jener verleitete sie, ihr Heil in äußern Formen, in der Heiligkeit des Fleisches zu suchen, und dieser, gleichgültig gegen die Sünde zu sein und den Be­gierden freien Lauf zu lassen. Durch diese beiden Übel hat der Feind zu aller Zeit und an allen Or­ten die Christen zu verderben gesucht. In bezug auf das erste sagt nun der Apostel «Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist nützlich. Alles ist mir er­laubt, aber ich will mich von keinem überwältigen lassen. Die Speisen für den Bauch, und der Bauch für die Speisen; Gott aber wird sowohl diesen als jene zunichte machen. Der Leib aber nicht für die Hurerei, sondern für den Herrn, und der Herr für den Leib» (Verse 12. 13). In betreff der Speisen habe ich vollkommene Freiheit, weil mir alles er­laubt ist; aber ich wandle erst dann in wahrer Frei­heit, wenn ich mich von keinem Ding in Knechtschaft bringen lasse. Die Speise und der Bauch ste­hen miteinander in Verbindung und beide werden miteinander vernichtet werden. Der Leib aber hat eine höhere Bestimmung. Er ist nicht für die Hu­rerei, sondern für den Herrn, um Ihm zu dienen, und der Herr für den Leib, um ihn zu erlösen (Vers 13); und mit dieser Wahrheit tritt der Apo­stel der andern Gefahr entgegen. Unser Leib, der­selbe Leib, den wir jetzt umhertragen, wird das Sterbliche ablegen und das Unsterbliche anziehen. «Gott aber hat sowohl den Herrn auferweckt, als Er auch uns auferwecken wird durch Seine Macht» (Vers 14). Das Blut Christi ist auch das Lösegeld für unsern Leib. Wir sind ganz von Ihm erkauft, und die Auferweckung des Leibes wird das End­resultat dieser gesegneten Tatsache sein. Zugleich sind wir infolge dieser Erwerbung durch Sein Blut jetzt schon, auch sogar dem Leibe nach, auf das innigste mit Christus vereinigt; denn mit Nachdruck fragt der Apostel «Wisset ihr nicht, dass eure Lei­ber Glieder des Christus sind? Soll ich denn die Glieder des Christus nehmen und sie zu Gliedern einer Hure machen? Das sei ferne!» (Vers 15). Das höchste Vorrecht und die ernsteste Verantwortlich­keit in betreff unseres Leibes begegnen sich hier. Unsere Leiber sind Glieder des Christus; sie sind ein Teil von Ihm; und wie schrecklich und verwerf­lich ist es deshalb, wenn ich — nicht einfach mei­nen Leib als solchen, sondern — die Glieder des Christus nehme und zu Gliedern einer Hure mache! Diese Beziehung zeigt uns die Sünde der Hurerei in ihrem wahren Licht und offenbart uns ihre ganze Abscheulichkeit.

Sollte es uns etwa auffallend sein, dass der Apo­stel es für nötig fand, mit einer Versammlung Got­tes über die Verwerflichkeit eines solchen Lasters so eingehend und ernst zu reden, so möge man be­denken, dass die Hurerei, die nach unsern gegenwärtigen Sitten und Gewohnheiten freilich eine verurteilte Sache ist, in dem heidnischen Korinth so­gar einen Teil des götzendienerischen Kultus ausmachte. Die Aufhebung derselben war also eine ganz neue Sache, und darum musste auch das Ge­fühl ihrer Verwerflichkeit in den Herzen der Gläu­bigen zuerst erweckt werden. Und nichts ist so sehr imstande, uns von der Verwerflichkeit aller Hurerei zu überzeugen, als die Tatsache, dass un­sere Leiber Glieder des Christus sind.

Eine andere, mit dieser in Verbindung stehende Wahrheit enthüllt uns der 16. und 17. Vers. So wie durch die Verbindung nach dem Fleisch zwei zu einem Leibe werden, so ist auch der, der « dem Herrn anhängt, ein Geist mit Ihm». Der Geist, der in Christus ohne Maß, in vollkommener Fülle wohnte, ist derselbe Geist, der auch in uns wohnt und uns mit Ihm vereinigt hat. Nach Seele, Geist und Leib gehören wir dem Herrn an und sind durch ein unauflösliches Band mit Ihm verbunden. Der Apostel bezeichnet die Hurerei als die einzige Sünde, womit wir gegen unsern Leib sündigen, indem wir durch seine Über­gabe an eine Hure praktisch das Band der Gemein­schaft mit Christo brechen, seine Beziehung zu Ihm entweihen und das durch Sein eigenes Blut erwor­bene Anrecht des Christus an denselben völlig verleugnen (Vers 18).

Der Heilige Geist geht jedoch noch einen Schritt weiter. «Oder wisset ihr nicht, dass euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euer selbst seid?» (Vers 19). Unser Leib ist also ein Tempel des Heiligen Geistes. Er wohnt darin als in Seinem Hause, und jede Verunreinigung und Befleckung des Leibes durch die Sünde ist darum eine Entwei­hung des Tempels Gottes, eine Verletzung der Ehre und Heiligkeit Dessen, der ihn bewohnt. Wir sehen in Joh. 2, wie sehr der Herr für die Reinigung des Tempels zu Jerusalem eiferte, und sollten wir nun weniger für die Heiligkeit des Tempels besorgt sein, der durch das kostbare Blut Christi erkauft und gereinigt und von Gott selbst zu Seiner Wohnung auserkoren ist? Der Tempel des Heiligen Geistes muss völlig rein bleiben, jeder Unreinigkeit muss mit Strenge gewehrt werden. Wir gehören ja auch uns selbst nicht mehr an, wir haben kein Recht, über uns zu verfügen; «denn», sagt der Apostel, «ihr seid um einen Preis erkauft worden» (Vers 20). Wir sind sowohl in bezug auf den Geist, als dem Leibe nach das Eigentum Gottes. Diese Wahrheit hat un­ser ganzes Verhalten zu leiten. Soviel wir uns jetzt selbst leben, soviel entwenden wir von den Rechten Dessen, der uns um einen so kostbaren Preis er­kauft hat. Wir sind Sklaven Christi. Unsere wahre Freiheit besteht darin, Gott anzugehören, Ihm allein zu leben und selbst an unserm Leibe nur Ihn zu verherrlichen.

Alles was wir sind und haben, gehört dem Herrn. Wie mächtig sind die Beweggründe, unser ganzes Leben völlig dem Herrn zu widmen Unsere Leiber sind Glieder des Christus; wir sind ein Geist mit dem Herrn; unser Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes; wir sind um einen Preis erkauft. Ja, heilig und unantastbar sind die Rechte Gottes über uns, und fest und unauflöslich ist das Band, das uns mit Ihm verbindet. Außerhalb dieser Beziehung sind wir nur Sklaven Satans, werden durch Selbstsucht geleitet und finden unser Ende — o schrecklicher Ge­danke! — in der ewigen Verbannung von der ein­zigen Quelle aller Liebe. In Christo Jesu aber sind wir die besondern Gegenstände und die gesegneten Gefäße dieser Liebe, und werden es ewig sein.