KAPITEL 9

In diesem Kapitel tritt der Apostel namentlich der Anklage falscher Lehrer entgegen, die ihn in seiner Wirksamkeit gewinnsüchtiger Absichten be­schuldigten, dass er nämlich sich deshalb die Chri­sten unterwürfig zu machen suche, um sich mit irdischen Gütern zu bereichern. Paulus antwortet mit Ruhe und Würde auf diese Beschuldigungen. Er beweist aus seinem Verhalten gegen die Korinther, dass er in dem ihm anvertrauten Dienste nicht ein­mal von seinem Rechte und seiner Freiheit Gebrauch gemacht habe. Er erklärt öffentlich, dass er ein Apo­stel sei, ein Augenzeuge der Herrlichkeit Christi, der ihm auf dem Wege nach Damaskus erschienen war (Vers 1). War er auch für andere kein Apo­stel, so war er es doch jedenfalls für die Korinther, da er das Mittel zu ihrer Bekehrung gewesen war. Ihr Glaube, ihre Stellung im Herrn waren der Be­weis und das Siegel seines Apostelamts (Vers 2); und so groß war sein Vertrauen zu ihnen, dass er sich in seiner Verantwortung gegen die, welche ihn zur Untersuchung zogen, mit aller Freimütigkeit auf sie berief (Vers 3).

Weiter zeigt dann der Apostel die Berechtigung dessen, der das Evangelium verkündigt, sich auch vom Evangelium zu ernähren. Zur Beschämung sei­ner Gegner fragt er, ob er nicht, wie andere Leute, ein Recht habe, zu essen und zu trinken, oder wie die andern Apostel und die Brüder des Herrn und Kephas, eine Schwester als Frau mit sich umherzu­führen, oder ob Barnabas und er allein genötigt seien, sich durch Hände Arbeit und nicht vom Evangelium zu ernähren? (Verse 4—6). In den Verhältnissen des täglichen Lebens wurde es ebenso gehalten; da empfing der Kriegsmann seinen Sold aus der Hand dessen, dem er diente, und der Hirt ernährte sich von der Milch der Herde, die er wei­dete (Vers 7). Dem Arbeiter gebührt auch der Lohn seiner Arbeit. Dieses Recht ist selbst durch das Ge­setz festgestellt; denn wenn geschrieben steht: «Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden» (5. Mose 25, 4), so will Gott dadurch nicht Seine Fürsorge gegen die Ochsen an den Tag legen und deren Rechte feststellen, sondern vielmehr unser Recht; und ebenso steht geschrieben: «dass der Pflügende auf Hoffnung pflügen soll und der Dreschende auf Hoffnung dreschen, um dessen teilhaftig zu werden» (Verse 9. 10). Er erwartet, von seiner Arbeit ernährt zu werden; und dieselbe Er­wartung darf doch auch der hegen, der das Evan­gelium verkündigt. Er sät das Geistliche und darf zum allerwenigsten hoffen, dafür das Leibliche zu ernten, für das Himmlische das Irdische (Vers 11). Wenn nun sogar andere für ihre geringe Mühe die­ses Rechts bei den Korinthern teilhaftig wurden, wie viel mehr Paulus und Barnabas, die mit so vieler Mühe unter den Heiden gearbeitet hatten; und den­noch hatten gerade sie von diesem Rechte bei ihnen keinen Gebrauch gemacht, um nicht auf irgendeine Weise dem Eingang des Evangeliums ein Hindernis in den Weg zu legen oder dem Feind irgendwel­chen Anlass zu ihrer Verdächtigung zu geben (Vers 12). Gott selbst, Der schon im Alten Bunde verord­net hatte, dass die, welche den Altar bedienten, mit dem Altar teilen sollten, hatte ebenso auch für die, welche das Evangelium verkündigten, verord­net, sich vom Evangelium zu nähren (Verse 13. 14); aber, wie schon bemerkt, der Apostel hatte dieses Recht bei den Korinthern in keiner Weise für sich in Anspruch genommen; und auch jetzt sprach er nicht davon, um es zu beanspruchen, denn er wollte lieber sterben, als dass ihm dieser Ruhm, das Evan­gelium umsonst verkündigt zu haben, zunichte ge­macht würde (Vers 15). Das Evangelium zu pre­digen war für ihn kein Ruhm. Er war durch die Berufung des Herrn dazu verpflichtet, und wehe ihm, wenn er es nicht tat! (Vers 16). «Denn wenn ich dies freiwillig tue», sagt er, «so habe ich Lohn, wenn aber unfreiwillig, so bin ich mit einer Ver­waltung betraut» (Vers 17). Sein Ruhm war, es kostenfrei zu tun, um allen Anlass zur Verdächti­gung gegen ihn und alle Ursache zur Erhebung denen wegzunehmen, welche diesen Anlass suchten (2. Kor. 11, 12). Was war nun aber der Lohn sei­ner bereitwilligen und kostenfreien Verkündigung des Evangeliums? (Vers 18). Die Antwort finden wir wohl in Vers 23: «Ich tue aber alles um des Evangeliums willen, auf dass ich mit ihm teilhaben möge.» Frei von Menschen, machte er sich freiwillig zu einem Knechte aller, damit er so viel als möglich gewinne (Vers 19). Dies bezieht sich na­türlich auf seinen Dienst. Er passt sich nicht der Welt an, um dem Ärgernis des Kreuzes zu ent­gehen. Er ging einfach in der Predigt von Christus, dem Gekreuzigten, voran (Kap. 2, 2); aber er rich­tete sich in seiner Verkündigung nach der religiösen Fähigkeit und Denkweise des einen oder des an­dern, nach den religiösen Gebräuchen sowohl der Juden als auch der Heiden, ohne aber dieselben für sich selbst anzunehmen. Und dies alles tat er nur, um der Wahrheit in den Herzen Bahn zu machen. Es war die Macht der zärtlichsten Liebe, die sich selbst in allen Dingen verleugnet, um der Sklave aller zu sein, und nicht die Selbstsucht, die unter dem Vorwand, andere zu gewinnen, sich selbst mit der größten Nachsicht behandelt. Er wurde den Juden ein Jude, denen, die unter Gesetz waren, als unter Gesetz, obwohl er selbst nicht unter Gesetz war, denen, die ohne Gesetz waren, als ohne Ge­setz, wiewohl er nicht gesetzlos vor Gott, sondern Christus gesetzmäßig unterworfen war (Verse 20. 21). Er handelte nicht nach eigenem Gutdünken oder eigener Macht, sondern unterwarf sich in allem dem Willen des Christus. Den Schwachen wurde er ein Schwacher (Vers 22), indem er ihr unfreies und schwaches Gewissen berücksichtigte, seine eigene Freiheit verleugnete und lieber für immer kein Fleisch essen wollte, als irgendeinem Bruder Anstoß zu geben. Er wurde allen alles, um auf alle Weise etliche zu erretten; und er tat es allein um des Evangeliums willen, damit er ein Teilhaber des­selben sein möchte. Er stellt mit diesen Worten das Evangelium gleichsam als eine Person hin, die das Werk der Liebe Gottes in der Welt ausübt (V. 23).

Und jetzt ermuntert der Apostel die Korinther, indem er das Bild eines irdischen Wettkampfes ge­braucht, zum Eifer und zum Ausharren, damit sie den vor ihnen liegenden Kampfpreis erlangen möch­ten (Vers 24). Dieser bestand nicht, wie bei jenen, in einer verwelklichen, sondern in einer unverwelk­lichen Krone; und wenn es zur Erlangung einer irdischen Krone nötig war, sich aller Dinge zu enthalten, so erforderte sicher die Erlangung der himm­lischen eine noch weit völligere Entsagung und Ver­leugnung in allem (Vers 25). Der Apostel stellt sich selbst als Muster in diesem Kampfe hin. Er, der den Philippern sagen konnte: «Eins aber tue ich: Vergessend, was hinten ist, jage ich, das vorge­steckte Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus» (Phil. 3, 14), konnte auch jetzt den Korinthern sa­gen: «Ich laufe daher also, nicht wie aufs Unge­wisse, ich kämpfe also, nicht wie einer, der die Luft schlägt; sondern ich zerschlage meinen Leib und führe ihn in Knechtschaft, auf dass ich nicht, nach­dem ich, andern gepredigt, selbst verwerflich werde» (Verse 26. 27). Paulus lief nicht mit ungewissen Tritten, wie einer, der das wahre Ziel nicht kennt oder nicht vor sich sieht, oder wie einer, der es nicht mit Ernst und Eifer als eine gekannte und für ihn höchst wertvolle Sache verfolgt. Gewiss, er kannte das herrliche Ziel; er wusste, was er verfolgte, und er verfolgte es mit aller Energie, mit aller Verleugnung und Aufopferung seiner selbst, wie es die Erlangung dieses kostbaren Kampfpreises erheischte und wie es der Natur desselben würdig war. Er ging nicht selbstsüchtig oder gemächlich sei­nen Weg; er kämpfte nicht wie einer, der die Luft schlägt, der einen Kampf ohne Zweck kämpft, son­dern wie einer, der die Schwierigkeit und die mäch­tigen Feinde, die entgegenstehen, wohl kennt. An­getan mit der Waffenrüstung Gottes stand er inmitten der Welt, in der die Sünde wohnt und Satan seine Herrschaft hat, und kämpfte den guten Kampf des Glaubens. Seinen eigenen Leib führte er in Knechtschaft; er behandelte ihn wie seinen Sklaven, um nicht durch ihn in seinem Lauf gehin­dert zu werden. Sein Blick war nicht auf das Sicht­bare gerichtet, sein Herz ließ sich nicht durch die eitlen und vergänglichen Dinge dieser Welt täuschen; sondern unverrückt schaute er auf «den Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus»; und was er andern predigte, übte er selbst aus, und zwar mit einer Energie und einer Verleugnung seiner selbst, die allen andern als Muster voranleuchten konnte. Anders hätte es wohl möglich sein können, dass, während er andern predigte, nicht nur die Frucht seiner Arbeit, sondern er selbst verloren war. Paulus war aber nicht nur ein guter Arbeiter, sondern auch ein guter Christ, ja, gerade deshalb war er ein guter Arbeiter, weil er zuerst ein guter Christ war. Und also laufend und kämp­fend erwartete er mit Geduld und Ausharren den glückseligen Augenblick, wo er aus der Hand sei­nes geliebten Herrn die unverwelkliche Krone emp­fangen würde.