Das Geheimnis des Wachstums (12. Brief)

Lieber ...,

sobald von dem Werk Gottes in uns die Rede ist, müssen wir zum Segen der Seele den Unterschied hervorheben, der zwischen diesem Werk und dem Werk Gottes für uns besteht. Das Werk Gottes in uns ist noch nicht zum Abschluss gekommen und wird auch auf der Erde nie seinen Abschluss finden. Es wird erst vollendet sein, "wenn wir erwachen in Seinem Bild" {Psalm 17,15}, wenn wir "Ihm (dem Sohn Gottes) gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist." (1. Joh. 3,2.)

Das Werk Gottes für uns hingegen ist, wie ich dir in meinem vorigen Brief gezeigt habe, schon für ewig vollkommen und vollendet. "Es ist vollbracht." {Joh 19,30} Auf diesem herrlichen und sicheren Grund steht der Gläubige gerechtfertigt und im Frieden vor Gott, befreit von Schuld und Strafe. Und mehr: Er ist nicht nur vom Gericht und Verderben errettet, sondern auch fähig (oder passend) gemacht "zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Licht". (Kol. 1,12.) Es ist eine hohe und herrliche Stellung, in die jeder wahre Gläubige versetzt worden ist, sie könnte nicht höher und herr licher sein; und sie ist für alle gleich hoch, gleich herrlich und vollkommen: "Wenn jemand in Christus ist, da ist eine neue Schöpfung." (2. Kor. 5,17.)

Hinsichtlich der Stellung gibt es also keinen Unterschied unter den Gläubigen. Ob der wiedergeborene Christ es völlig weiß und genießt oder nicht, er ist "in Christus" vor Gott, und darum gibt es keine Verdammnis mehr für ihn. (Röm. 8,1.) Christus selbst ist ihm von Gott "Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung" geworden (1. Kor. 1,30); ja, wie wir gehört haben, er ist in Christus eine „neue Schöpfung". (2. Kor. 5,17.) Er ist ein "Kind Gottes", ein "Erbe Gottes", ein "Miterbe Christi" {Röm 8,17}. Er ist in Christus vor Gottes Auge bereits "mitauferweckt" und mitversetzt "in die himmlischen Örter". (Eph. 2,6.) Sein Platz ist nicht mehr "draußen", auch nicht mehr im Vorhof wie beim Volk Israel, sondern im Allerheiligsten selbst, d. h. in der unmittelbaren Gegenwart Gottes, "Mit Freimütigkeit" und in "voller Gewissheit des Glaubens" sollte jeder wahre Gläubige diesen Platz einnehmen; dazu ermahnt uns Gott, denn dies ist unsere Stellung, und Er selbst hat sie uns durch das Opfer Jesu Christi erworben. (Hebr. 10,19-23.)

Viele wahre Christen kennen leider diese ihre hohe und herrliche Stellung nicht; sie gleichen Fürsten, die Länder besitzen, die sie nicht kennen und genießen, die im Ausland um Güter klagen und bitten, die längst ihr freies Eigentum sind. Welch ein Verlust für sie und auch für Gott! Jeder Gläubige, der seine Stellung in Christus nicht kennt, wird seinen Zustand für seine Stellung halten; und darum hat er leider so wenig Kraft und dauernden Frieden, so wenig völlige Widmung und Hingebung, so wenig oder gar keine Danksagung und Anbetung in Geist und Wahrheit, die doch Gott, der Vater, "sucht" {Joh 4,23}.

Hinsichtlich des Zustandes aber gibt es, wie wir aus Gottes Wort wissen und es täglich in der Erfahrung sehen, bei den einzelnen Christen große Unterschiede. Unser Zustand hängt von dem Stand des Werkes Gottes in uns ab. Gottes Geist hat in dem wahren Gläubigen Wohnung gemacht, wie du aus vielen Stellen der Heiligen Schrift weißt. Lies z. B. Röm. 8,15; 1. Thess. 4,8; 2. Kor. 1,22 u. a. m. Auch da nun, wo der Hei lige Geist nicht "betrübt" wird (Eph. 4,30), gibt es verschiene Stufen: "Kindlein", "Jünglinge" und "Väter" {siehe 1. Joh 2,13-27}. Aber, wie oft wird leider der Heilige Geist betrübt, wird Er mit Seiner unterweisenden, ermahnenden und züchtigenden Stimme und Wirksamkeit überhört! Schon darum gibt es solche Verschiedenheiten und Wechsel der Zustände.

Der Zustand des Gläubigen aber sollte seiner hohen und herrlichen Stellung entsprechen und dies mehr und mehr tun. Hierin also, lieber ..., ist ein Wachstum möglich, wonach du gefragt hast. Aber nicht nur hier ist die Möglichkeit eines Wachstums vorhanden, vielmehr sollten wir wachsen, sollten "immer reichlicher zunehmen" (1. Thess. 4,10). Das Werk Gottes in uns kann und soll vertieft werden. Und da, wo man treu auf Gottes Wort und die Leitung des Heiligen Geistes merkt, geschieht das auch. Allen Gläubigen, die in ihrem Tun und Lassen die Beweise davon geben, dass sie in dem für sie vollbrachten vollkommenen Werk Christi Heil und Leben gefunden haben, kann man zuversichtlich die Worte zurufen, die der Apostel an die Gläubigen in Philippi richtete: "Der, der ein gutes Werk in euch angefangen hat, es vollenden wird bis auf den Tag Jesu Christi." (Phil. 1,6.)

Aber auch da, wo das Werk des Geistes Gottes in der Seele nicht gehindert wird, vielmehr seinen gesegneten Fortgang nimmt, wo es also an den Früchten des Heiligen Geistes nicht fehlt (Gal. 5,22), auch da ist noch ein Wachs tum möglich; denn das Ziel unseres Wachstums ist kein geringeres und kein anderes als Jesus Christus selbst. Im Blick auf dieses herrliche und erhabene Endziel unseres Weges muss auch der ernsteste Christ mit dem treuen Apostel Paulus sagen: "Nicht, dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollendet sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möge, indem ich auch von Christus Jesu ergriffen bin." (Phil. 3,12.)

Ja, dies, lieber ..., ist das Endziel Gottes für dich und mich und für alle nah und fern, die Kinder Gottes geworden sind; wir sollen "dem Bild Seines Sohnes gleichförmig sein, damit Er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern." (Röm. 8,29.)

Welch wunderbar erhabenes Ziel und Vorhaben Gottes mit uns! Wir sollen dem Sohn Gottes ähnlich und gleich förmig werden, Ihm, der "die Ausstrahlung Seiner (Gottes) Herrlichkeit und der Abdruck Seines Wesens" ist. (Hebr. 1,3.) Und obwohl wir diese Gleichförmigkeit erst völlig dann haben werden, wenn wir Jesus schauen werden, wissen wir doch, dass schon jetzt auf dem ganzen Weg jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat, sich "reinigt, wie Er rein ist." (1. Joh. 3,3.) Ja, welch ein Ernst und Eifer, welche Wachsamkeit und heilige Furcht vor allem Bösen sollte uns beseelen im Blick auf das hohe Ziel, das uns von Gott gesteckt ist, und zu dem Gott uns führen will!

Worin aber liegt das Geheimnis des Wachstums d. h. des Erfolgs und des Fortschritts im Wachstum? Das ist eine sehr wichtige Frage für unser praktisches Leben.

Manche mögen meinen, der Erfolg hänge davon ab, dass man fleißig den Blick in sich versenke, auf sein Inneres richte. Aber diese Selbstbeschaulichkeit, der sich besonders jene Christen hingegeben haben, die man in der Geschichte der Kirche "Mystiker" nennt, würde allein nicht viel fruchten. Sie könnte selbstzufrieden oder auch andererseits verzagt und mutlos machen. Denn was ist der Mensch in sich selbst? - Hören wir, was Paulus tat. Er sagt uns in der oben an geführten Stelle (Phil. 3,13.14) weiter: "Brüder ich denke von mir selbst nicht , es ergriffen zu haben; eines aber tue ich: Vergessend was dahinten und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesu."

Das Geheimnis unseres Fortschritts und Erfolges im geistlichen Leben und göttlichen Wachstum ist also: Christus, unser Ziel, unverrückt anschauen, nach Ihm sich mit Verlangen ausstrecken. Die Beschäftigung mit sich selbst macht den Gläubigen nicht Christus ähnlicher und bringt ihn dem herrlichen Ziel nicht näher; was ihn dem Ziel näher bringt ist die Beschäftigung mit Christus, der in der Herrlichkeit zur Rechten Gottes thront. Im 2. Brief an die Korinther lesen wir: "Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach dem selben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist." (2. Kor. 3,18.)

Dies ist auch das Begehren des Wortes Gottes und des Heiligen Geistes: den Blick unseres Herzens immer auf Christus hinzulenken. Folgen wir Ihm, so wandeln wir in den Fußstapfen Christi, offenbaren Seine Gesinnung und verkündigen Seine Tugenden, wozu wir berufen sind {1. Petr 2,9}.

So habe denn deine Freude und Lust am Herrn, mein lieber ...! Hierin ist unsere Stärke. Lass uns auf Jesus schauen und Ihn betrachten in Seiner Schönheit und Hoheit, wozu wir so oft von Gott ermahnt werden. (Vergl. Hebr. 3,1; 12,1-2.) Dann werden wir nicht in unseren Seelen auf dem Weg ermatten, sondern, Gott zum Ruhm, feste Tritte tun, und Christus wird in uns geschaut und durch uns erhoben werden.

Dies sei dein Wunsch, lieber ..., und der Herr, der beides, das Wollen und Vollbringen, gibt, mache dich völlig und überströmend in allem Guten und befestige dein Herz tadellos vor unserem Gott und Vater in Heiligkeit!

In Ihm, in inniger Liebe verbunden,

dein ...