Was ist christologisch zuverlässiger?

Die modernen Textausgaben oder der "Textus Receptus"?

Am 27.01.2001 erhielt ich einen Eintrag ins Gästebuch meiner Homepage. Der Schreiber glaubt, dass der sogenannte "Textus Receptus" der inspirierte Text des Neuen Testaments ist. Dem Schreiber fehlt ein Kommentar von mir über christologische Stellen im neuen Testament. Er schreibt u. a.:

Hier haben wir es aber mit gravierenden Problemen zu tun. Der t.r. [= Textus Receptus] ist in diesen Stellen wesentlich qualitativer als der MT [=Mehrheitstext] und auch NA 27 [Textausgabe von Nestle Aland, 27 Auflage]. Ich denke hier vor allem an Joh 6,47; 1Kor 15,47; 1Tim 3,16; Kol 1,14; Phil 4,13 usw. Vielleicht könnten Sie Ihre Arbeit unter diesem Aspekt nochmals prüfen. Im Herrn Jesus herzlich gegrüßt Ihr ...

(Anmerkungen von M. Arhelger in eckigen Klammern.)

Bei den genannten Bibelstellen hat der Schreiber folgende Kritikpunkte über moderne Textausgaben:

Joh 6,47; wer an mich glaubt - hier ist "an mich" ausgelassen

1Tim 3,16; Gott geoffenbart im Fleisch - hier ist "Gott" ausgelassen

1Kor 15,47; der neue Mensch ist der Herr vom Himmel - hier ist "der Herr" ausgelassen

Kol 1,14; die Erlösung durch sein Blut - hier ist "sein Blut" ausgelassen

Phil 4,13; ich vermag alles durch den der mich kräftig macht, Christus - hier ist "Christus" ausgelassen

Eifer ohne Erkenntnis?

Lieber Bruder ...,

haben Sie herzlichen Dank für Ihre Mail, Ihren Eintrag in mein Gästebuch und der Mühe, die Sie sich damit gemacht haben. Dem Wort Gottes kommt nichts an Wert gleich, deshalb sollten wir nicht müde werden, die Wahrheit von Gottes Gedanken zu erfassen.

Ich kann sehr gut verstehen, dass sie im Blick auf christologische Stellen sensibel sind, denn leider hat die moderne und vielfach ungläubige Theologie gerade den Herrn Jesus anzugreifen versucht und ihn Seiner Ehre berauben wollen.

Doch garantiert Eifer um Gott und Sein Werk noch nicht, dass man den Eifer in der rechten Weise entfaltet. Es kann sehr leicht passieren, dass Gott dasselbe Urteil sprechen muss, das er durch Paulus über die ungläubigen Juden seiner Tage aussprechen musste: "Ich gebe ihnen Zeugnis, dass sie Eifer für Gott haben, aber nicht nach Erkenntnis." (Röm 10,2) Ich freue mich, dass Sie nicht zur Partei der sogenannten "King-James-only" oder "Luther 1545" gehören. Diese haben nicht nur Eifer ohne Erkenntnis, sondern sie bilden auch durch die Überbetonung ihrer (sachlich unsinnigen, ja grotesken) Ansichten eine Partei, eine Sekte im biblischen Sinn.

Sie haben mir privat geschrieben, dass Ihnen selbst die Spezialisten Ihre Fragen nicht befriedigend beantworten konnten. Nun, ohne vorgeben zu wollen, ein "Spezialist" zu sein, glaube ich, dass Ihre Probleme mit den von ihnen genannten Stellen gar nicht so schwierig zu lösen sind. Voraussetzung ist allerdings, dass Sie wirklich zu prüfen bereit sind, und nicht schon von vorneherein nur Ihre Position verteidigen wollen.

Doch nun zu den Stellen:

Der Textus Receptus hat christologische Namen oder Titel ausgelassen

Sie haben richtigerweise erkannt, dass moderne Textausgaben (z. B. Nestel-Aland) manchmal Gottesnamen nicht haben, die im Textus Receptus sehr wohl vertreten sind. Aber spricht diese Tatsache an sich schon für einen Mangel? Derselbe "Mangel" liegt dann (an anderen Stellen) auch im Textus Receptus vor: Auch im TR gibt es mehrfach Verse, bei denen ein Gottesname fehlt oder verkürzt ist.

Einige Beispiele:

Joh 12,1: "Lazarus ..., den Jesus aus den Toten auferweckt hatte." - hier hat der Textus Receptus den Namen "Jesus" ausgelassen.

Apg 26,15: " Der Herr aber sprach" - hier hat der Textus Receptus "der Herr" ausgelassen.

Röm 11,22: " gegen dich aber Güte Gottes " - hier hat der Textus Receptus das Wort "Gottes" ausgelassen.

1. Kor 1,29: " damit sich vor Gott kein Fleisch rühme." – auch hier hat der Textus Receptus den Ausdruck "Gott" ausgelassen.

Judas 25: "dem alleinigen Gott, unserem Heiland, durch Jesus Christus, unseren Herrn ..." – der Textus Receptus hat den gesamten Ausdruck "durch Jesus Christus, unseren Herrn" weggelassen.

Offb 1,8: "Ich bin das Alpha und das Omega, spricht der Herr, Gott " – der Textus Receptus hat das Wort "Gott" ausgelassen.

Offb 4,11: "Du bist würdig, o unser Herr und unser Gott ". – der Textus Receptus hat hier den gesamten Ausdruck "und unser Gott" ausgelassen.

Nach diesen Beispielen muss ich Ihre Bitte an mich an Sie selbst zurückgeben: "Vielleicht könnten Sie Ihre Arbeit unter diesem Aspekt nochmals prüfen."

Weglassen und Hinzufügen

Wenn ich ihre Einwand richtig verstanden habe, dann sind Sie der Meinung, dass der Text, der die Gottesnamen ausführlicher oder vollständiger erhalten hat, der richtige ist. Demnach dürfte der Text von Nestle-Aland nicht der richtige sein (siehe Ihre Belegstellen). Aber auch der Textus Receptus könnte nicht der richtige Text sein (siehe meine Belegstellen).

In Wirklichkeit ist die Sache nicht ganz so einfach. Nicht immer ist der ausführlichere Text auch der ursprüngliche.

In Offenbarung 22,18-19 steht: "Ich bezeuge jedem, der die Worte der Weissagung dieses Buches hört: Wenn jemand zu diesen Dingen hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen hinzufügen, die in diesem Buch geschrieben sind; und wenn jemand von den Worten des Buches dieser Weissagung wegnimmt, so wird Gott sein Teil wegnehmen von dem Baum des Lebens und aus der heiligen Stadt, wovon in diesem Buch geschrieben ist."

Das Wort Gottes kennt also nicht nur eine, sondern zwei grundsätzliche Möglichkeiten, wie es zur Textverderbnis kommen kann:

1) Es kann etwas weggelassen werden

2) Es kann etwas hinzugefügt werden

Es ist nicht schon von vornherein klar, dass eine Lesartvariante durch Weglassen entstanden ist. Sie könnte auch durch Hinzufügung entstanden sein (oder durch beides zusammen).

Es ist zu einfach, wenn man sagt: "Wenn eine Lesart inhaltlich und biblisch wahr und zutreffend ist, dann ist sie richtig." Sonst könnte man doch herkommen, und an allen Stellen, bei denen der Bibeltext "Jesus" hat, hinzufügen: "welcher der Sohn Gottes ist". Inhaltlich und sachlich wäre das zweifellos richtig, aber wäre es auch das, was Gott, der die Heilige Schrift inspiriert hat, wirklich an dieser Stelle ausdrücken wollte?

Nein, allein die Tatsache, dass eine Lesart an sich biblisch und lehrmäßig richtig ist, garantiert noch nicht, dass sie auch tatsächlich ursprünglich ist und dass Gott wollte, dass diese Wahrheit auch genau an dieser Stelle in genau dieser Form ausgedrückt werden sollte. (Das Gegenteil gilt sehr wohl: Wenn eine Lesart biblisch inhaltlich falsch ist, dann kann sie nicht ursprünglich sein. Allerdings sollten wir das Urteil "unbiblisch" nicht zu vorschnell fällen, denn es könnte sein, dass wir den Bibeltext nur nicht richtig verstanden haben.)

Zu den konkreten Stellen

Erlauben Sie mir noch einige Bemerkungen zu den konkreten Stellen, die Sie genannt haben:

1. Einwand: Joh 6,47; wer an mich glaubt - hier ist "an mich" ausgelassen

Vier Antworten dazu:

1) Wenige Verse vorher ( Vers 35 und 40) verschweigen auch die modernen Textausgaben nicht, an wen geglaubt werden soll:

"Jesus sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt , wird niemals dürsten." (Vers 35)

"Denn dies ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt , ewiges Leben habe." (Vers 40)

2) Der TR sagt an vielen Stellen ebenfalls nicht ausdrücklich, an wen geglaubt werden soll, z. B. in demselben Kapitel in Vers 36 ("Aber ich habe euch gesagt, dass ihr mich gesehen habt und doch nicht glaubt."). Angenommen, man würde Handschriften finden, bei denen hier ergänzt worden wäre, an wen geglaubt werden soll. Würden Sie dann den Textus Receptus verwerfen, weil er hier unvollständiger ist? Es gibt noch viele andere Stellen, bei denen der Textus Receptus zwar das Glauben erwähnt, aber nicht ausdrücklich sagt, an wen geglaubt werden soll: Mk 5,36; 16,17; Luk 8,50; Joh 1,7; 11,15.40; 14,29; 19,35; Apg 13,39 usw.

3) Im Zusammenhang von Joh 6 kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, an wen geglaubt werden soll, auch wenn das in Vers 47 nicht ausdrücklich gesagt ist.

4) Meiner persönlichen Meinung nach, sind in Vers 47 die Worte "an mich" tatsächlich nicht ursprünglich. Im Zusammenhang geht es in Vers 47 nämlich nicht so sehr darum an wen geglaubt werden soll, sondern die Tätigkeit des Glaubens an sich soll betont werden – im Gegensatz zum Murren und zum Einwände vorbringen. (Lesen Sie den Zusammenhang.) Es scheint mir ziemlich wahrscheinlich, dass ein späterer Abschreiber des biblischen Textes versehentlich das "glaubt" zu einem "an mich glaubt" ergänzt hat, weil er diese Wortfügung aus den vorhergehenden Versen noch im Gedächtnis hatte. Eine absichtliche Streichung der Worte "an mich" scheint mir kaum glaubhaft, denn warum hat man eine analoge Streichung dann nicht auch in Vers 35 und 40 vorgenommen?

2. Einwand: 1. Tim 3,16; Gott geoffenbart im Fleisch - hier ist "Gott" ausgelassen

Zuerst will ich betonen, dass ich tatsächlich glaube, dass Gott in der Person des Herrn Jesus im Fleisch offenbart worden ist. Viele Bibelstellen bezeugen das (z. B. Joh 1,1-18). Ich sage das deshalb, weil ich nicht glaube, dass der Heiligen Schrift etwas fehlt, wenn das Wort "Gott" in 1. Tim 3,16 tatsächlich nicht zum inspirierten Text dazugehören sollte; es gibt genug andere Stellen, die diese Wahrheit bezeugen.

Eine andere Frage ist, ob das Wort "Gott" in 1. Tim 3,16 tatsächlich das ausdrückt, was an dieser Stelle gesagt werden soll. Im Zusammenhang der Stelle geht es gar nicht darum, ob er, der offenbart worden ist, Gott ist (obwohl das, wie gesagt, an sich sicherlich wahr ist), sondern es soll gesagt werden, dass eine Person im Fleisch offenbart worden ist, die auch diese übrigen Dinge ("gerechtfertigt im Geist usw.") in wunderbarer Weise in sich vereint. Wer anders als der Sohn Gottes könnte hier gemeint sein?

Ein Ausleger schreibt im Blick auf die Lesarten in 1. Tim 3,16: „Wenn man die besser bezeugte Lesart abwägend be­trachtet, wird man bald zu der freudigen Entdeckung kom­men, dass die Verwendung des Relativpronomens in die­sem Zusammenhang viel genauer ist, während sie dieselbe Wahrheit (wie die Verwendung des Wortes ,Gott') voraussetzt. Welchen Sinn hätte es denn zu sagen, dass Adam oder Abraham, David, Jesaja, Daniel oder irgendein anderer Mensch im Fleisch offenbart wurde? Wenn ein Engel sich so offenbarte, dann wäre es Empörung gegen die göttliche Ordnung. Für den Menschen als solchen gibt es keinen an­deren Weg als das Fleisch; der Mächtigste und Weiseste, der begabteste Redner, Dichter, Soldat oder Politiker ist ebenso wie der geringste von Frauen Geborene nur Fleisch. Nicht so jedoch der eine Mittler zwischen Gott und Menschen. Er ließ sich zwar herab, Mensch zu werden, aber Er war we­sensmäßig und ewig Gott" (W. Kelly: Exposition of the Two Epistles to Timothy, 3. Auflage 1948, S. 72-73. Zitiert nach: A. Remmers: Du aber .... Eine Auslegung zum ersten und zweiten Timotheusbrief, Hückeswagen 2001, S. 102f.)

3. Einwand: 1Kor 15,47; der neue Mensch ist der Herr vom Himmel - hier ist "der Herr" ausgelassen

Zuerst möchte ich wieder betonen, dass der Sohn Gottes, selbstverständlich "Herr" ist. Die Bibel zeigt das so oft, dass ich hier auf Belegstellen verzichte. Aber auch hier erlaube ich mir die Frage, ob diese Tatsache, das er "Herr" ist, so wahr sie an sich ist, wirklich in 1. Kor 15,47 ausgedrückt werden sollte. In 1. Kor 15 geht es nicht um die Frage, ob Er der "Herr" ist, sondern es geht um die Tatsache der Auferstehung und im Zusammenhang von Vers 47 darum, welchen Charakter dieser zweite Mensch trug. Er war "aus dem Himmel", dies ist sein Ursprung

Jesus war der zweite Mensch ( nicht der "neue Mensch", wie Sie schreiben; das ist in der Ausdrucksweise der Schrift etwas anderes). E r war der zweite Mensch, weil er nicht (wie alle Menschen vor ihm) nur eine "Reproduktion" des ersten Menschen Adam war. Jesus war ein Mensch von einer ganz neuen Art: aus dem Himmel. Der Gedanke, dass er auch der "Herr" ist, gehört m. E. nicht hierher und schwächt die wuchtige Ausdrucksweise des Apostels Paulus nur ab. Es geht um das Gegensatzpaar "von (der) Erde" und "vom Himmel", nicht um die Frage, ob er Herr ist oder nicht. Selbst wenn die Lesart "Herr" hier ursprünglich sein sollte, denke ich, dass man diesen Gegensatz auch entsprechend übersetzten sollte. Also nicht (wie z. B. in der sogenannten Schlachter 2000): "der zweite Mensch ist der Herr vom Himmel", sondern "der zweite Mensch, der Herr, ist vom Himmel". Nur so kommt die eigentliche Betonung, die auf "aus dem Himmel" liegt, hervor.

4. Einwand: Kol 1,14; die Erlösung durch sein Blut - hier ist "sein Blut" ausgelassen

Es ist unbedingt wahr, dass die Erlösung durch Sein Blut geschah. Epheser 1,7 betont das ausdrücklich: "in dem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade". Folgt daraus aber schon, dass die Worte auch in Kol 1,14 genau so gelautet haben müssen? Ist es nicht sogar wahrscheinlich, dass ein Abschreiber, der den Text von Eph 1,7 gut kannte, die entsprechende Formulierung (ob versehentlich oder absichtlich) auch im ähnlich lautenden Kolosser 1,14 eingefügt hat? Welchen Grund sollte ein Abschreiber gehabt haben, die Worte "durch sein Blut" in Kolosser 1,14 auszulassen, wenn sie wirklich dort echt wären? Hätte so ein Schreiber sonst die Worte nicht auch in Epheser 1,7 auslassen müssen?

Wer den Epheserbrief und den Kolosserbrief kennt, wird wissen, dass sie viele Ähnlichkeiten aufweisen. Aber "im Epheserbrief haben wir eine größere Fülle als im Kolosserbrief. Daher zeigt jener Brief [Epheserbrief], wie die Segnung möglich ist trotz unserer Sünden, die in dem herrlichen Bericht dort (Kap 1) in Erscheinung treten. Hier im Kolosserbrief dagegen haben wir eben die Aufzählung der Segnung ..." (W. Kelly: Bemerkungen über den Brief an die Kolosser, Hückeswagen 1981, S. 26.) Im Zusammenhang der Stelle soll gar nicht gesagt werden wie wir diese Erlösung erlangt haben, denn der Schreiber eilt, um dem Leser zur Person Christi selbst zu führen, deren Herrlichkeiten er in den Versen 15-19 in wunderbarer Weise entfaltet. Erst ab Vers 20 spricht er von dem Werk Christi und erwähnt dann auch das "Blut seines Kreuzes".

5. Einwand: Phil 4,13; ich vermag alles durch den der mich kräftig macht, Christus - hier ist "Christus" ausgelassen

Auch hier erlaube ich mir die Frage: Warum sollte das Wort "Christus" ausgelassen worden sein, wenn es wirklich schon im ursprünglichen Text gestanden haben sollte? Tatsache ist, dass "Christus" hier in fast allen alten Handschriften in erster Hand fehlt.

In der Hoffnung Ihnen etwas weitergeholfen zu haben verbleibe ich

im Herrn Jesus verbunden

Ihr Martin Arhelger